Hagengebirge – außerhalb der daran angrenzenden Salzburger Gaue und des Berchtesgadener Landes wird allenfalls der Name, aber wohl nicht der Name eines einzelnen Gipfels bekannt sein. Kaum ein Wiener- oder Innsbrucker Alpinist wird in seinem Tourenbuch „ein Lied davon singen“. Dies ist verständlich: Es gibt hier keine einzige bewirtschaftete Hütte und die umliegenden Gebirgsgruppen können weitaus prominentere Gipfel ihr Eigen nennen. Auch bei mir als Salzburger hat es lange gedauert… Mein Lied endet zwar mit einer Dissonanz – davor aber wurde ich mit prächtigen Klangfarben in Dur und Moll beschenkt.
Golling – Abtenau. Der Bahnhof ist von Salzburg aus im Halbstundentackt zu erreichen. Da ich nicht weiß, ob sich mein Vorhaben verwirklichen lässt, ob die Wege auf der Landkarte im Gelände tatsächlich (noch) vorhanden sind oder mir gar ein Windwurf oder Schneebruch eine unüberwindliche Stopp-Tafel entgegenhält, fahre ich – um gegebenenfalls wieder bequem zurückkommen zu können – mal mit dem Rad durchs Bluntautal
zum Gasthaus Bärenhütte (Ruhetage beachten!). Hinter dem großen Gebäude führt der Weg erst eben,
dann in Serpentinen durch die abweisende Steilstufe.
Da oben im Wald war ich vor Jahren einmal, habe im Biwaksack im Schutze einer uralten Buche ein Gewitter abgewartet, danach etwa 100 schwarze Alpensalamander gezählt und bin bis zur Seealm vorgedrungen… Wie fiebere ich diesem Blick, hinunter in die Doline, entgegen! Warum kommt da so eine Freude in mir auf? Die Begegnung mit einer Landschaft, die jenseits aller Erwartung oder bisheriger Vorstellungskraft idyllisch ist, die Bestätigung, dass es, über alles mir Bekannte hinaus, Zauberhaftes gibt – das öffnet die Seele und fächelt ihr Hoffnung zu:
Und dann, meine Seele, sei weit, sei weit, dass dir das Leben gelinge,
Rilke
und breite dich wie ein Feierkleid, über die sinnenden Dinge.
Zunächst aber geht es – auch über Treppen – steil bergan. Eine Alleingängerin kommt mir entgegen. „Ich habe umgedreht; fühl mich nicht so sicher heute…“
Die Vegetation ist überaus üppig in diesem feuchten Winkel der Alpen. Ich, der ich nie im Urwald war, habe ein „Urwaldgefühl“: Farne und allerlei Grünes lassen den Weg verschwinden, vielfältiger Vogelgesang empfängt und begleitet mich.
Dann beginnt ein sanfter Abstieg – die Seealm naht; und wieder verzaubert sie mich – und ich rufe laut aus: Oh Gott, wie schön!
Auch wenn mein Weg es nicht erfordert – ich muss hinunter bis zur Wasserfläche… Da springt etwa weg, bevor es von meinem Wanderschuh zertreten wird: ein Frosch? Eine Kröte? Es gelang mir auch zu Hause nicht, diese Tiere genauer zu bestimmen, die mir in der nächsten Stunde etwas Stress bereiteten, da ich ihnen keinesfalls etwas – über die Störung ihrer Ruhe hinaus – zuleide tun wollte. Zu meinem Erstaunen war ihr Flucht- und Bewegungsbedürfnis nach einem trägen Sprung auch schon wieder gestillt.
Aus der Doline geht es hoch hinaus, in einen Art Tal-Graben.
Die Vegetation bleibt ungemein üppig. Die Markierungen schützen vor Um- oder Abwegen.
Dann geben die Bäume erstmals den Blick frei, auf einen mächtigen „Heuschober“ (= Trist´n):
Es ist schon der Tristkopf, der sich über einer Art Alm nahe einer Autobahn erhebt. Die Autobahn befördert Strom, die nette Hütte heißt „Verbund“ – Hütte.
Wie staune ich über den vor Kurzem offenbar mit der Motorsense gemähten „Garten“. Von der Bärenhütte bin ich knapp drei Stunden unterwegs. Mittagsrast. Der Wasserhahn an der Hütte spende kühles Nass, die Trinkflasche wird aufgefüllt; die Quelle beim nahen Trog tröpfelt nur.
Nach einem Blick auf die Handy-Karte schöpfe ich Mut: Die angedachte Überschreitung könnte gelingen. Es sind nur mehr 600 Höhenmeter bis zum Gipfel, und die Strecke schein nicht zu weit.
Hinauf unter die Autobahn; bei einer Stütze zweigt der Weg zum Hochtor ab. Die Blumenpracht, vom leuchtenden Gelb der Trollblumen dominiert, überwältigt mich. Wieder ist der Pfad zwar gut-kenntlich markiert aber kaum ausgetreten. Im Latschengürtel erreicht der Farbenteppich ein unvorstellbares Ausmaß, das sich bis zum Gipfel des Tristkopfes immer wieder verändert und entfaltet: Wer Läusekraut, Kugelblume, Hornklee, Narzissenblütiges Windröschen, Enzian, Fleischers Weidenröschen … zu seinen Bekannten zählt, wird sich einfach in die Wiese legen und inmitten seiner Familie ein Nickerchen machen:
Ich finde dich in allen diesen Dingen,
Rilke
welchen ich gut und wie ein Bruder bin…
Knapp nach dreizehn Uhr blicke ich, eine Hand am Gipfelkreuz, in die Runde.
Die vielen Bekannten (Göll, Hochkönig, Wieselsteine im Tennengebirge) verschleiert der Sahara-Staub. Die Schwüle des Sonnwendtages wird durch leisen Wind gemildert. – Unten, im Hochtor, wo ich den Rucksack deponiert habe, mache ich Rast.
Gut 1.300 Höhenmeter steiler Abstieg liegen vor mir:
zunächst immer wieder im Geröll, dann aber, in den Latschen und später im Wald auf gutem, deutlich ausgetretenem Weg. Der Tristkopf wird offenbar vor allem von Tenneck aus bestiegen. Bei etwa 1.400 Metern erquickt mich eine Quelle mit eiskaltem Wasser (Trinkflasche auffüllen!).
Nun kommt mehrmals meine kleine Säge zum Einsatz: zum Dank für die Tour und als Hilfe für die wegerhaltende Sektion entferne ich die eine oder andere Stolperfalle.
Der Vogelgesang weicht dem Zivilisationslärm. Ein imposanter Lastwangen (Achtung Muldenverkehr!) wirbelt Staub auf…
Der Blick auf den Hnady-Fahrplan zeigt, dass der nächste Zug von Tenneck um 16:51 Uhr abfährt. Nun rächt sich meine mangelhafte Vorbereitung: Wie komm ich zum Bahnhof?
Breiten wir ein Tuch des Schweigens über den Weg am Straßenrand der B159, auf der LKWs und jede Menge Urlauberautos laute Windböen in mein Gesicht schleudern. Der Blick auf Hohenwerfen darf mich dennoch erfreuen.
Ein Sprung über die Geleise – es ist geschafft!
Wenige Minuten später steige ich in Golling-Abtenau aus. Auf dem einstündigen Marsch zur Bärenhütte überlagert das Wiederkäuen der prächtigen Bilder und Harmonien die Nachwirkungen des Straßenlärms. Glücklich entkomme ich dem aufziehenden Gewitter und träume am Rad von Stille, Vogelgesang und Trollblumen.
Tipp
Wer diese Überschreitung wiederholen will, sollte unbedingt die andere Richtung wählen: am Vortag das W3-Shuttle ab Bhf. Werfen buchen, 0664/1266700; Fahrplan: W3-Shuttle_Fahrplan.pdf (werfenweng.eu) – Klimaticket wird akzeptiert! Alternativ: Taxi Hippolt, 0043 6412/86 86; 0043 664 886 79777; taxi.hippolt@sbg.at. Das Ziel ist der Steinbruch Ehrensberger, Tenneck, Bundesstraße 30, Ausgangspunkt für den Tristkopf (große gelbe Tafeln/Pfeile). So entkommt man der Dissonanz am Ende der Tour und kann die gottvoll-verwunschenen Etappen Schluck für Schluck genießen. Vielleicht geht sich abends als kühlender Schlussakkord ein Fußbad im Bluntausee aus.
20 Kilometer und an die 1800 Höhenmeter werden jedenfalls die eine oder andere Spur hinterlassen… Das Sonnwend-Festkleid der Kalkalpen ist natürlich an diese Jahreszeit gebunden.
Danke für diese seelenvolle Tour und Beschreibung lieber Karl!